Settle


Cast-bronze
approx. 180 x 90 x 60 cm
2013





(Ver-)Ortungen im Gedächtnis / (Ver-)Ortungen des Gedächtnisses / Ordnung und Gedächtnis
Vor rund fünf Jahren nahm Nives Widauer ein Projekt in Angriff, das sogenannte Aufraum-Projekt, das nicht nur eine Re-Lektüre ihres (Video-)Archivs beinhaltete, sondern letztlich auch Anstoss zur vorliegenden Publikation gab. Was als pragmatischer Wunsch nach Aufarbeitung und Ordnung begann, entwickelte sich zu einer intensiven Zusammenarbeit, der die folgenden Gedanken geschuldet sind. So zeichnete sich im Verlauf des mehrjährigen Austausches auch die Erkenntnis ab, dass Widauers Werkstrategie eng mit Aspekten von Gedächtnisprozessen und Erinnerungskulturen in Verbindung gebracht werden kann. Ein gedankliches Konglomerat schält sich heraus: sammeln und ordnen, erinnern und vergessen, transformieren und loslassen. Es sind Bewegungsmodi, angebunden an ein System von Ein- und Ausschlüssen, von Wucherung und Struktur, die in den Arbeiten jeweils unterschiedliche Impulswirkung zeigen.
Auf der Suche nach der ultimativen Datenbank / Erstarrte Zeit
Die frühesten Bestände von Widauers Videoarchiv stammen aus den späten Achtzigerjahren, aus der Zeit analoger Videoformate. Graue Plastikhüllen mit leicht geprägter, rauer Oberfläche umschliessen die Kassetten, die den elektromagnetischen Aufzeichnungen ein haptisch erfahrbares Gehäuse bieten. U-Matic, S-VHS, VHS lauten die Bezeichnungen, von Hand beschriftete Labels geben Anhaltspunkte darüber, was auf den Videos zu sehen ist. Die Abspielgeräte besitzen die Dimensionen eines Pilotenkoffers und neigen manchmal dazu, das Videoband nicht nur über die verschiedenen Video-, Ton und Synchronisationsköpfe zu fädeln, sondern auch zu verschlingen und in knittrigen „Bandsalat“ zu verwandeln. Trotz materialer Aussenpräsenz und physischer Dimensionen eine fragile Materie, pflegeintensiv und in Folge der Entwicklung digitaler Aufnahme- und Speichertechnologien auch bald überholt. Nives Widauer beginnt mit dem „Aufraum“ zu einem Zeitpunkt, als sich Digitalisierung als pragmatische und vor allem auch breit abgestützte „sichere Lösung“ etabliert hat. Die älteren Videoarbeiten finden in Form von Digitalisaten ihren Platz auf digitalen Speichermedien, sie sind eingebunden in das informationstechnologische System von Ablage, Anzeige und Zugriff – sie werden zu Videodaten. Nun bildet der konservatorische Impetus aber nur eine Facette des Projekts, ebenso wie auch der Anwendung archivalischer Prinzipien und Ordnungen untergeordnete Bedeutung zukommt. Vielmehr initiiert die Künstlerin hier einen Prozess, der das Aufräumen als Vorgang der Entschlackung und Transformation begreift. Im Zuge der digitalen Sicherung überblickt sie nochmals ihre bisherige Videoproduktion, eignet sich die Arbeiten kritisch-bewertend wieder an. Zugleich die Entlastung: Die delikaten Informationsträger, die in Form zahlreicher Kassettenstapel zunehmend zum Obstakel im Arbeitsalltag gerieten, sind von ihrer ursprünglichen Aufgabe enthoben, sie haben ihren Status als Instanz der Speicherung an die informatische Datensicherung abgetreten. Damit ist jedoch der Lebenszyklus der physischen Träger des analogen Videoarchivs nicht abgeschlossen, sie werden nicht entsorgt, sondern gehen in den Fundus an vielfältigen Materialien ein, in diesem Fall in einen Bronzeguss, aus denen die Künstlerin wiederum Anregungen für neue Arbeiten schöpft.

Irene Müller